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Alt 27.02.2004, 10:04   #11
junimond
scatterbrain
 
Benutzerbild von junimond
 
Registriert seit: 22.04.2001
Ort: my little corner of the world
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junimond ist ein Lichtblickjunimond ist ein Lichtblickjunimond ist ein Lichtblickjunimond ist ein Lichtblickjunimond ist ein Lichtblick
nach camus fremden musste ich mich dann erst mal in die (gedanken)welt des kleinen prinzen flüchten..-und mittlerweile blättere ich auch mal wieder in süskinds geschichte von herrn sommer herum und les die ein oder andere episode noch mal nach..- es liegt grad neben mir ..mal ein auszug..vielleicht nimmt sich ja jemand die zeit :

"Und jetzt werden wir noch zehn Minuten Diabelli spielen, damit du endlich Noten lesen lernst. Wehe, du machst einen Fehler!"

Ich nickte ergeben und wischte mir mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Diabelli, das war ein freundlicher Komponist. Das war kein solcher Fugenschinder wie dieser grauenhafte Häßler. Diabelli war einfach zu spielen, bis zur Einfältigkeit einfach, und klang dabei doch immer sehr famos. Ich liebte Diabelli, auch wenn meine Schwester manchmal sagte: "Wer gar nicht Klavier spielen kann, der kann immer noch Diabelli spielen."

Wir spielten also Diabelli vierhändig, Fräulein Funkel links im Bass orgelnd und ich mit beiden Händen unisono rechts im Diskant. Eine Weile lang ging das recht flott dahin, ich fühlte mich in zunehmendem Maße sicher, dankte dem lieben Gott, dass er den Komponisten Anton Diabelli geschaffen hatte, und vergaß schließlich in meiner Erleichterung, dass die kleine Sonatine in G-Dur notiert und also am Anfang mit einem Fis vorgezeichnet gewesen war; dies bedeutete, dass man sich auf Dauer nicht nur auf den weißen Tasten bequem dahinbewegen konnte, sondern an bestimmten Stellen, ohne weitere Vorwarnung im Notentext, eine schwarze Taste anzuschlagen hatte, eben jenes Fis, welches sich gleich unterhalb des G befand. Als nun zum ersten Mal das Fis in meinem Part erschien, erkannte ich es nicht als solches, tappte prompt daneben und spielte stattdessen F, was, wie jeder Musikfreund sofort begreifen wird, einen unerfreulichen Missklang ergab.

"Typisch!" fauchte Fräulein Funkel und brach ab. "Typisch! Bei der ersten kleinen Schwierigkeit haut der Herr gleich daneben! Hast du keine Augen im Kopf? Fis! Da steht es groß und deutlich! Merk's dir! Noch mal von vorn! Eins-zwei- drei-vier ..."

Wie es dazu kam, dass ich beim zweiten Mal den gleichen Fehler wieder machte, ist mir noch heute nicht ganz erklärlich. Vermutlich war ich so sehr darauf bedacht, ihn nicht zu machen, dass ich hinter jeder Note ein Fis witterte, am liebsten von Anfang an nur lauter Fis gespielt hätte, mich regelrecht zwingen musste, Fis nicht zu spielen, noch nicht Fis, noch nicht ... bis ... -- ja, bis ich eben an der bewussten Stelle abermals F statt Fis spielte.

Sie wurde mit einem Schlag knallrot im Gesicht und kreischte los: "Ja ist das denn die Möglichkeit! Fis hab' ich gesagt, zum Donnerwetter! Fis! Weißt du nicht, was ein Fis ist, du Holzkopf? Da!" -- peng-peng -- und sie klatschte mit ihrem Zeigefinger, dessen Spitze vom jahrezehntelangen Klavierunterricht schon so breitgeklopft war wie ein Zehnpfennigstück, auf die schwarze Taste unterhalb des G -- "... Das ist ein Fis! ..." -- peng-peng - "... Das ist ... -" Und an dieser Stelle musste sie niesen. Nieste, wischte sich rasch mit dem erwähnten Zeigefinger über den Schnurrbart und hieb anschließend noch zwei-, dreimal auf die Taste, laut kreischend: "Das ist ein Fis, das ist ein Fis ...!" Dann zog sie ihr Taschentuch aus der Manschette und schneuzte sich.

Ich aber starrte auf das Fis und erbleichte. Am vorderen Ende der Taste klebte eine ungefähr fingernagellange, beinahe bleistiftdicke, wurmhaft gekrümmte, grüngelblich schillernde Portion schleimig frischen Rotzpopels, offenbar stammend aus der Nase von Fräulein Funkel, von wo sie durch das Niesen auf den Schnurrbart, vom Schnurrbart durch die Wischbewegung auf den Zeigefinger und vom Zeigefinger auf das Fis gelangt war.

"Noch mal von vorne!" knurrte es neben mir. "Eins-zwei-drei-vier ..." -- und wir begannen zu spielen.

Die folgenden dreißig Sekunden zählten zu den entsetzlichsten meines Lebens. Ich spürte, wie mir das Blut aus den Wangen wich und der Angstschweiß in den Nacken stieg. Die Haare sträubten sich mir auf dem Kopfe, meine Ohren wurden abwechselnd heiß und kalt und schließlich taub, als seien sie verstopft, ich hörte kaum noch etwas von der lieblichen Melodie des Anton Diabelli, die ich selber wie mechanisch spielte, ohne Blick aufs Notenheft, die Finger taten's nach der zweiten Wiederholung von alleine -- ich starrte nur mit Riesenaugen auf die schlanke schwarze Taste unterhalb des G, auf der Marie-Luise FunkeIs Rotzeballen klebte ... noch sieben Takte, noch sechs ... es war unmöglich, die Taste zu drücken, ohne mitten in den Schleim hineinzutappen ... noch fünf Takte, noch vier ... wenn ich aber nicht hineintappte und zum dritten Mal das F statt des Fis spielte, dann ... noch drei Takte -- o lieber Gott, mach ein Wunder! Sag etwas! Tu etwas! Reiß die Erde auf! Zertrümmere das Klavier! Lass die Zeit rückwärts gehen, damit ich nicht dies Fis spielen muss! ... noch zwei Takte, noch einer ... und der liebe Gott schwieg und tat nichts, und der letzte fürchterliche Takt war da, er bestand -- ich weiß es noch genau -- aus sechs Achteln, die vom D herunter bis zum Fis liefen und in einer Viertelnote auf dem darüberliegenden G mündeten ... wie in den Orkus taumelten meine Finger diese Achteltreppe hinunter, D-C-H-A-G ... -- "Fis jetzt!", schrie es neben mir ... und ich, im klarsten Bewusstsein dessen, was ich tat, mit vollkommener Todesverachtung, spielte F."

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fairy tales are more than true:
not because they tell us that dragons exist, but because they tell us that dragons can be beaten.
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