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Alt 13.05.2003, 22:38   #38
doppelter boden
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Konzertkritik im Bremer Weser-Kurier! (2003)

Aus dem Bremer Weser-Kurier



Geklotzt, nicht gekleckert: Herbert in Höchstform

Zur Eröffnung seiner Open-Air-Tournee begeisterte Grönemeyer das Publikum im ausverkauften Bremer Weserstadion

Von unserem Mitarbeiter
André Hesel

Vier Jahre – seit seinem sensationellen, bewegenden Auftritt bei den „Hard Pop Days“ am Unisee (im Jahr zuvor waren seine Frau und sein Bruder gestorben) – musste Bremen auf einen Live-Auftritt von Herbert Grönemeyer warten. 43000 Menschen erlebten nun das erste von zwei Konzerten im quasi ausverkauften Weserstadion, mit dem der Sänger seine Open-Air-Tournee offiziell eröffnete. „Das Beste von Gestern bis Mensch“ war bereits im vergangenen Jahr mit einer Hallentour gestartet und demonstriert derzeit mit insgesamt rund einer Million Zuschauern die Ausnahmestellung des Wahl-Londoners in der deutschen Pop-Musik.
Allgemeine, leichte Konfusion auf der Suche nach dem richtigen Eingang in die Baustelle Weserstadion und das HipHop-Quartett „Creutzfeld & Jacob“ tun der Riesenstimmung mit umjubelten Tribünenwellen schon vor Konzertbeginn keinen Abbruch. Die Formation mit drei Rappern und DJ mag nicht so recht als Vorgruppe passen. Ein Lichtblick ist jedoch deren Gaststar J-Luv, der zum Abschluss des kurzen Vorprogramms mit einer entspannten Soulnummer andeutet, warum sein HipHop-Kosmos gelegentlich mit der musikalischen Auffassung Xavier Naidoos verglichen wird.
Als um 20.40 Uhr zwei Rauchsäulen aufsteigen und Herbert Grönemeyer mit „Blick zurück“ aus dem Publikum kommend über den etwa 25 Meter langen Laufsteg auf die noch verhüllte Bühne zuläuft, ist die Stimmung im Stadion schon fast auf dem Siedepunkt. Und als er gleich anschließend den Klassiker „Was soll das?“ kredenzt, wird auch deutlich, was das Publikum zu erwarten hat – eine fulminante Reise durch Grönemeyers Karriere bis zum aktuellen Erfolgsalbum „Mensch“.
Hits wie „Bochum“, „Bleibt alles anders“, „Halt mich“, „Alkohol“ oder „Flugzeuge im Bauch“ werden nicht nur vor, sondern auch auf der Bühne gefeiert.
Um sich selbst zu zelebrieren, hat der 47-Jährige eine mächtige, 16-köpfige Live-Besetzung aufgeboten. Die Rhythmusgruppe mit zwei Gitarren, Grönemeyers zweitem Keyboard, zusätzlichem Perkussionisten, Tenorsaxofon und achtköpfigem Streichensemble deutet schon an, dass geklotzt und nicht gekleckert wird. Hinter der Bühne zeigen zwei Leinwände und eine riesige Splitscreenfläche Details des Konzerts oder Computer-animierte Sequenzen, was dann einem gigantischen Bildschirmschoner gleichkommt. Auch die Spezial-Effekte haben es in sich: Mit Pyrotechnik, Konfettikanonen, einem haushohen, aufblasbaren Eisbären und Luftballons verwöhnt die Show ihre Zuschauer und gönnt sich den Luxus, die Effekte nicht zu wiederholen. Das Publikum dankt es nach Sonnenuntergang mit dem faszinierendsten aller optischen Konzerteindrücke – einem phänomenalen Lichtermeer.
Wer ein langes Konzert erwartete, musste nach knapp 90 Minuten erst mal eine Schrecksekunde überwinden, als Herbert Grönemeyer den offiziellen Konzertteil beendete. Doch drei Mal kam er für Zugaben zurück und nutzte die Zeit bis zum Zapfenstreich um 23 Uhr.
Die rund zweieinhalbstündige Show gehört zum Besten, was das Weserstadion bis dato erlebte. Ein Herbert in Höchstform badet im Applaus und präsentiert sich als keckes, vor Lust sprudelndes Energiebündel. Der gestandene Mann tanzt und springt wie ein Teenager, rennt zu jeder Stelle der Bühne, wirft sich auf den Boden, um das Publikum zum fußballerischen Eckenruf zu dirigieren und singt, als wäre dies der Abschluss seiner Tournee und nicht ihr Start. Der Star, dessen Gesangstechnik so unvergleichlich wie kräftezehrend ist, schont sich nicht und serviert seinen Fans musikalische Schwerstarbeit mit feurigen, „verrückten“ Vokalimprovisationen.
Vor allem in den rockigen, bombastisch instrumentierten Titeln drückt Grönemeyer kompromisslos auf die Stimmbänder. Das hinterlässt mit zunehmender Dauer Spuren, die der Sänger keck und augenzwinkernd mit Operndiva-artiger Falsettstimme übergeht oder damit, dass er besonders anstrengende Passagen den ohnehin textsicheren Fans überlässt.
Die Dramaturgie des Konzerts belegt erneut, warum Herbert Grönemeyer als herausragender, charismatischer Live-Performer gilt. Seine Songs sind erfolgreich, weil sie eingängig, weil ihre Texte intelligent und weil ihre Emotionen griffige, authentische Formeln sind.
Grönemeyers Musik trifft die Sentimente seines Publikums im Kern – ob er energisch losrockt wie in „Neuland“ und „Männer“, ob er gefühlvolle Balladen wie den wehmütigen, anrührenden Rückblick „Der Weg“, die souligen „Flugzeuge im Bauch“ und das mit Streicherwellen wogende „Zum Meer“ auslebt, ob er „Luxus“ zum kernigen Souljazz ausufern lässt oder ob er beim unbeschwerten „Mambo“ wie ein frecher Bengel medizinballgroße Ballons in die Menge drischt.
Wie schon bei seinem letzten Bremer Konzert, so legt auch der Grönemeyer des Jahres 2003 sein Best-Of-Repertoire nicht als nostalgische Rückschau an, sondern demonstriert mit geschmackvollen, gekonnt variierten Arrangements eine zum Gesang passende Verspieltheit. Den alten Hits passen die neuen Kleider – wie die elektronischen Beats bei „Männer“, der flotte, Souljazz-Groove unter „Luxus“ oder der knackige Reggae zu „Mensch“ wie angegossen. Dass der letzte Titel, den die Band abschließend zum zweiten Mal spielt, ja sein aktueller Hit ist, dürfte schließlich unterstreichen, wie experimentierfreudig, wie befreit, wie temperamentvoll und wie lustvoll dieser Herbert Grönemeyer sich selbst inszeniert.
Als die Band längst verschwunden ist, steht er noch minutenlang am Bühnenrand und bedankt sich bei jenem Publikum, über das er zu Beginn sagte, es habe ihm zur „Bleibt alles anders“-Tournee das erste und schönste Konzert beschert. Über diesen Abend kann er das noch nicht sagen, doch sein Blick zeigt, dass er diesen Abend empfindet wie seine Fans: als Genuss.
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