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Alt 04.08.2005, 21:55   #28
eissee
ich will mehr!
 
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eissee ist ein wunderbarer Anblickeissee ist ein wunderbarer Anblickeissee ist ein wunderbarer Anblickeissee ist ein wunderbarer Anblickeissee ist ein wunderbarer Anblickeissee ist ein wunderbarer Anblickeissee ist ein wunderbarer Anblick
AW: Neues Buch über Grönemeyer

also, als ich mich mit meinen freundinnen in berlin zu live8 traf, hatten wir das buch dabei... wir haben bei manchen passagen nur noch die augen !


eine von uns vieren, ich nenne sie jetzt mal uschi, beschloss dem verlag des buches einen brief zu schreiben... ich finde er ist sehr gut gelungen, und spiegelt auch meine meinung über das buch sehr gut wieder... wobei ich zugeben muss ich habe mich nicht so damit befasst wie sie, und ich könnte mich auch nie so hervorragend ausdrücken!!!


also, es folgt nun der brief:





Sehr geehrte Damen und Herren,



mit großem Interesse habe ich das bei Ihrem Verlag erschienene Werk „Das verlorene Ich – Gesellschaftsreflexionen in den Liedtexten Herbert Grönemeyers“ von Verena Scheffel gelesen. Da ich mich schon seit 20 Jahren mit dem Werk Grönemeyers auseinandersetze, erlaube ich mir, ein paar Bemerkungen zum vorliegenden Buch anzuführen, und ersuche Sie, diese an die Autorin weiterzuleiten.



Leider ist in dem Buch nichts über die Autorin zu erfahren. Ich vermute aber, dass Frau Scheffel eine Sprachwissenschafterin ist, die sich mit Grönemeyers Texten eher zufällig auseinandergesetzt hat. Die technisch sicher fundierte Analyse (davon gehe ich aus, eine Beurteilung ist mir aufgrund meiner Ausbildung – ich bin Betriebswirtin – nicht möglich) lässt meiner Ansicht nach nämlich die jeweils aktuellen zeit-geschichtlichen Aspekte, die in Grönemeyers Werken immer eine gewichtige Rolle spielen, völlig außer Acht. Er selbst sagt doch in seinen Interviews immer wieder, dass seine Texte vor dem Hintergrund des jeweiligen privaten, politischen und gesellschaftspolitischen Geschehens entstehen. Er stilisiert die Situationen und baut daraus Geschichten.



Frau Scheffel geht darauf das ganze Buch hindurch nicht ein, was mein Hauptkritikpunkt an dem Werk ist. Sie ist sehr auf das geschriebene Wort fixiert, ohne die Abstraktionen (die sie zwar mehrmals erwähnt) Grönemeyers in den tatsächlichen gesellschaftlichen Kontext zu bringen. – Als Beispiel möchte ich hierfür das Kapitel 5.2. „Übertriebener Nationalstolz vs. Mangelnde Identifikation mit der eigenen Heimat“ anführen. – Auf S. 59f vergleicht sie die Inhalte der Lieder „Tanzen“ aus 1986 mit „Neuland“ aus 2002 und wirft dem Autor einen Widerspruch vor, weil „Tanzen“ den Nationalstolz bzw. nationales Gedankengut anprangert, während in „Neuland“ das Land bzw. seine Bewohner aufgefordert werden, mehr an sich zu glauben, mehr aus sich zu machen und endlich „in die Gänge“ zu kommen.



Ja, mein Gott!!! – Zwischen den Liedern liegt die deutsche Wiedervereinigung! – Das Hauptthema in Grönemeyers gesellschaftskritischen Texten seit 1990! – 1986 lebte Grönemeyer in Westdeutschland unter der Regierung eines stockkonservativen, immer wieder mit dem – auch alten – rechten Lager kokettierenden Kanzler Helmut Kohl. Und 2002 herrschte in Gesamtdeutschland, das die Wiedervereinigung trotz Kohls lockig-flockiger Ankündigung von „blühenden Landschaften“ noch lange nicht verdaut hat, eine bis heute andauernde Frustration, ein massives West-Ost-Gefälle, was den Wohlstand angeht und eine Lähmung, die die Menschen blockiert, aus diesem Jammertal herauszukommen. – Wenn Frau Scheffel diese Rahmenbedin-gungen in ihre Analysen mit einbeziehen würde, wären die beiden Lieder auch für sie wohl plötzlich gar nicht mehr so widersprüchlich.





In Kapitel 5.6. „Bedeutung der Heimat für den Menschen in Herbert Grönemeyers Liedtexten“ seziert sie – wiederum völlig technisch und ohne Herbert Grönemeyer verstehen zu wollen – das Lied „Heimat“ von 1999. Auf S. 65 behauptet sie, mit „warten auf den Schnee“ wäre die Reinheit der Gesellschaft oder auch die Kälte in der Gesellschaft und die mangelnde Kommunikationsfähigkeit gemeint. – Ich dagegen behaupte kühn, weil ich einfach glaube, schon länger als Frau Scheffel zu versuchen, Grönemeyer zu verstehen, mit „warten auf den Schnee“ ist vielmehr das geistige Vakuum und die aus dem Wohlstand entstandene Trägheit einerseits (Westen) und die totale Resignation andererseits (Osten) gemeint, die die Menschen stumpf auf den Winter warten lassen, anstatt endlich aufeinander zuzugehen und die Wiedervereinigung zu leben und sie für sich zu nutzen. – Das Aufeinander-Zugehen ist meiner Ansicht nach auch mit der Textstelle „wer traut sich als erster über’n See“ gemeint, also jener See, der Frau Scheffel auf S. 65 ja zu der Frage „Von welchem See ist die Rede?“ veranlasst.



In der Analyse der Liebeslieder verschließt sich Frau Scheffel meiner Meinung nach - und das finde ich im 21. Jahrhundert mehr als bedenklich – der Tatsache, dass es auch andere Liebesbeziehungen als die zwischen Mann und Frau gibt. – In der Einleitung des Kapitels 6 wird darauf hingewiesen, dass in den nachfolgenden Analysen immer von einem männlichen lyrischen Ich ausgegangen wird, und nachfolgend wird der geliebte, verehrte Mensch immer als SIE bezeichnet. – Könnten die Texte über zwischenmenschliche Beziehungen nicht auch von zwei Männern oder zwei Frauen handeln, oder könnte Grönemeyer nicht in einem der analysierten Texte gar seine Gefühle zu einem seiner Kinder ansprechen?



Um mich nicht noch in weitere Details zu versteigen, möchte ich abschließend noch die verwendeten Literaturquellen zum Teil in Frage stellen. Als eine der Hauptquellen diente „Grönemeyer Biografie“ von Ulrich Hoffmann. Ein Buch, das erst nach mehreren gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen Grönemeyer und dem Autor seinen Weg in die Läden fand. Ein Buch, das vor spekulativen Behauptungen über Grönemeyers Privatleben nur so strotzt. Ein Buch, in dem Grönemeyer seitenweise mit aus dem Zusammenhang gerissenen Aussagen zitiert wird. Ein Buch, das von H. Grönemeyer nicht autorisiert wurde. Ein Buch, das 2002/2003 auf den allgemein herrschenden Hype rund um Grönemeyers Album „Mensch“ und seine überwundene private Tragödie einfach aufgesprungen ist, und das in der Form eigentlich keiner braucht.



Ich erlaube mir, dies auch teilweise dem vorliegenden Buch „Das verlorene Ich“ vorzuwerfen. – Grönemeyer ist im deutschsprachigen Raum seit gut drei Jahren ein Erfolgsgarant. – Leider auch für alle, die lieblos sich diese Tatsache zu Nutze machen und auf den Zug aufspringen.



Man kann in einer ernst gemeinten Auseinandersetzung mit Grönemeyers Texten wirklich viel für sich und sein Leben herausholen, und die mit der Zeit immer mehr verklausulierten Texte kann man meinetwegen auch analysieren. Aber meiner Meinung nach müsste das – wenn überhaupt – viel intensiver, tief greifender und mit mehr Verständnis für den Künstler erfolgen.



Mit freundlichen Grüßen


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