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Alt 11.03.2007, 17:41   #1
Luxus
Estación del Silencio
 
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Beitrag Herbert im WOM-Magazin (März 2007)

Es gibt einen recht ausführlichen Artikel in der aktuellen WOM-Zeitschrift vom März 2007:

http://www.wom-redaktion.de/journal/...ma&unit=200046

Zitat:
Himmel und Hölle

„Mensch“ war gestern. Jetzt schlägt’s „12“! Fünf Jahre, nachdem ihm sein Opus Magnum wie aus heiterem Himmel auf den Kopf fiel, ist Herbert Grönemeyer wieder da. Mit Humor, vielen Fragen, neuem Sound und neuer Platte. Aber, handelt es sich wirklich nur um ein neues Album?

HÄTTE ER NICHT so ein verdammt dickes Fell, könnte er einem glatt leidtun. Reich, berühmt und in künstlerischer Hinsicht über jeden Zweifel erhaben schien Grönemeyer noch vor zwei Jahren gewesen zu sein. Damals hatte der „Mensch“ nicht nur rund drei Millionen Einheiten des gleichnamigen Albums verkauft. Das Volk hing an seinen Lippen, seine wenigen Fernsehauftritte waren quotenträchtig und der Wahl-Londoner spielte in jedem großen Palast der Republik. Warum? Weil er nach allem, was ein ehemaliger Liedermacher respektive Deutschrocker erreichen konnte und erreicht hatte, nicht in die Kiste mit der schwurbelig-doofen Betroffenheits- Lyrik griff, sondern die menschliche Natur reflektierte. Zielsicher formuliert und popmusikalisch wertvoll verpackt. Grönemeyer war sexy und unantastbar wie weiland die Mona Lisa. Vermutlich nicht zuletzt, weil ihn die fast schon an eine griechische Tragödie erinnernde, öffentlich gemachte Trauer nach dem Tod seiner Frau Anna und seines Bruders Wilhelm so verletzbar wie nie zuvor zeigte. „Weil er lacht, weil er lebt, Du fehlst.“

Nach „Mensch“ mit einem schweren Vermächtnis zurück nach London
Das saß. Tief eingebrannt ins kollektive Gedächtnis. Viel mehr noch als die Ode an seine Heimatstadt „Bochum“, das satirische „Männer“ oder das schweinchenrosafarbene „Kinder an die Macht“, seine populären Großtaten aus den Achtzigern. Die Angies und Guidomobilbesitzer sind zwar längst an der Macht, aber sie werden vermutlich weit weniger Langlebigkeit genießen als Grönemeyer. Zwei Millionen Zuschauer sahen seine „Mensch“-Tour, die er erst nach der doppelten Einweihung der Düsseldorfer Multifunktionsarena im Januar 2005 beendete. Grönemeyer trug ein schweres Vermächtnis zurück nach London, brachte seine Kompositionen für Robert Wilsons Theaterproduktion von Georg Büchners „Leonce und Lena“ raus, widmete sich der Arbeit an seinem Grönland-Label, wiederveröffentlichte auf diesem unter tosendem Spezialisten-Applaus die Alben der Krautrock-Legende Neu! und tat, tja, was tat er eigentlich noch? Songs schreiben? An den Nägeln kauen, weil der Erfolg so unvorhersehbar groß geworden war? Stephan Eicher, Schweizer Chansonier mit zwischenzeitlicher Grönemeyerartiger Popularität in Frankreich und Herbert-Vertrauter, besuchte den deutschen Helden in dessen Studio in London nach der „Mensch“-Veröffentlichung. „Wir haben viel miteinander gequatscht, und ich konnte den Mann ein bisschen kennen lernen“, erzählt Eicher, dessen letzte Studio-CD, „Taxi Europa“, eine Kollaboration mit Grönemeyer enthält. „Ich bin begeistert von ihm. Wie er mit dem ganzen Erfolg, seiner persönlichen Tragödie umgegangen ist und seinen Kindern trotzdem ein toller Vater ist, hat mich wirklich umgehauen. Er ist auch ein sehr amüsanter Kerl. Ich habe selten so gelacht wie mit ihm.“ Diese Aussage dürfte zumindest einen Teil der Nörgler überraschen, die Grönemeyer für einen bierernsten Zeitgenossen halten. Aber dazu später mehr. Eicher hat nämlich noch anderes beobachtet. „Herbert hat die Energie eines 17-Jährigen und das riesige, musikalische Verständnis eines 80-Jährigen. Meine Wahrnehmung des Menschen Grönemeyer kann sich aber von der eines Deutschen unterscheiden. Denn ich kenne ihn weniger über Deutschland als vielmehr über die Achse Zürich-London-Paris.“ Darin könnte tatsächlich die Krux, die Grönemeyer zweifellos auch darstellt, liegen. Im Ausland mag er das Sinnbild des mondänen, weltgewandten Deutschen abgeben, der von der Redaktion des „Time“-Magazines 2005 zum „European Hero“ geschlagen wurde. Hierzulande bietet er genügend Projektionsfläche für individuelle, teils berufsbedingte Pro- und Kontra-Bekenntnisse. Das mitunter amüsant-schizophrene, wechselseitige Katz- und Mausspiel zwischen Journalisten und Grönemeyer ist ein abendfüllendes Thema. Keine Lust auf strunzdumme Interviews zu haben, ist des Grönemeyers gutes Recht.

Keine Zurschaustellung des Gutmenschen, sondern ein direkter, mutiger Schlag ins Gesicht rechter Köpfe
Die Leserschaft mit Statements Grönemeyers zu versorgen, ist des Journalisten Pflicht. Sich rar machen, heißt in diesem Geschäft auch, sich interessant halten. Warum Grönemeyer dann trotzdem ausgerechnet zum Talk bei Beckmann erscheint, weiß eigentlich nur er. Wieso sein Beitrag zur Fußball- WM 2006, „Zeit, dass sich was dreht“, von der schreibenden Zunft bis zur Unkenntlichkeit verdreht wurde, weiß nur die Zunft selbst. Gut, der große Sauf- und Rauf-Hit war Grönemeyers Kollaboration mit dem Mali-Blues-Duo Amadou & Mariam nicht. Die Zweckerfüllung der Nummer sah in Grönemeyers Augen vermutlich aber auch anders aus. Denn sein Ansatz, in einem Land – seinem Land – in dem kurz nach dem Mauerfall Asylantenheime brannten und in dem Farbige immer noch den rechten Mief kleiner Kommunen zu spüren bekommen, mit Musikern aus Mali aufzutreten, war weit mehr als respektabel. Vor allem im Kontext des „Wir sind wieder wer“-Jubeltaumels des letzten Jahres. Die größten Kulturpessimisten mutierten plötzlich zu Schönfärbern und Sozialromantikern, redeten, redeten und redeten. Grönemeyer agierte. Das war keine Zurschaustellung des weißen Gutmenschen, sondern ein direkter, mutiger Schlag ins Gesicht rechter Köpfe. Dennoch rieb sich das Feuilleton die Hände. Die Lunte war gelegt. Auch einem Grönemeyer, so der Grundtenor, kann mal was missglücken. Begierig wartete man nun auf die kommende Platte. Geradezu hysterisch wurde im letzten Jahr die Tourankündigung des prominenten Ruhrgebietsmannes vernommen. Immerhin, 600 000 Tickets für die kommende Sommertour waren bereits verkauft, bevor jemand auch nur einen Ton des neuen Albums gehört hatte. Das sind, zugegeben, zwar nur Zahlen. Für das Phänomen Grönemeyer können sie aber allemal als Beleg herangezogen werden. Als dann Anfang des Jahres die ersten Details zum neuen Album „12“ durchsickerten, wurde allerorten so getan, als handle es sich bei der Veröffentlichung um ein Ereignis von zeithistorischer Bedeutung. In geradezu staatstragender Dialektik mutmaßten die einen über die kommende Offenbarung des Herbert G.

Grönemeyer ist nicht der Oberemotionsdarsteller vor dem Herrn, wenn es nichts darzustellen gibt
Die Galgenvögel von der Kulturkritik wetzten derweil amüsiert und mit vorausschauendem Heißhunger schon mal die Messer. Klar, die Messlatte hängt nach „Mensch“ hoch. Sehr hoch sogar. Aber hat Grönemeyer sie selbst so hoch gehängt? War es nicht eher das kollektive Bewusstsein, das ihn im Kontext von austauschbarer Superstar-Suche begierig zur unbedingt authentischen, bitte nicht wandlungsbedürftigen Ikone erklärt hatte? Die Haltung ist in diesem Schaugeschäft Pop, mit Verlaub, schon mal per se bescheuert. Träume, Illusionen werden über das Vehikel Pop verkauft. Es wimmelt vor Emotionsdarstellern. Grönemeyer ist ganz bestimmt nicht der Oberemotionsdarsteller vor dem Herrn, wenn es nichts darzustellen gibt. Seine persönliche Krise ist überstanden, so scheint es. Jetzt zählen wieder die Dinge zwischen Himmel und Erde, die man möglicherweise nicht unmittelbar mit ihm in Verbindung bringen kann. „Lied 1 – Ein Stück vom Himmel“, heißt die erste Single-Auskopplung des neuen Albums. Ein gefundenes Fressen für seine Kritiker. „Heureka!“ war ein viel gehörter Ruf in den Schreibstuben der großen Tageszeitungen, weil Grönemeyer darin nicht über sich, sondern Kreuzritter, Gott und das Göttliche singt. Einigen blieb, dem Protokoll nach, gar das Frühstück in der Kehle hängen, als die Nummer erstmalig im Radio zu hören war. Hallo!? Geht’s noch? Es ist bloß ein Lied, keine allgemein gültige Formel, und es beschwört auch keine neue Weltordnung herauf. Dumm für die vermeintlich Frühstücksgestörten, dass sie nicht das komplette Album hören konnten. Das Schwere, Großorchestrale von „Lied 1“, wird nämlich schon im nächsten Song, „Lied 2 – Kopf hoch, tanzen“ aufgehoben, textlich ad absurdum geführt. Der Spaß am Dualismus regiert auf „12“. Dem Zustand der Welt wird mit, tja, Humor, teils bissiger Metaphorik begegnet. „Ist Ingenieursein nicht glamourös“ und „Warum gibt’s dein Lächeln nur extra, denn du küsst so wunderbar deutsch, geht’s noch“ singt er über forsch stampfendem Synthie-Beat, wie gewohnt produziert von Alex Silva. Ganz großes Kino ist „12“ geworden. Experimentierfreudig wie selten zuvor, bricht Grönemeyer lustvoll mit sämtlichen Manierismen seiner selbst und bleibt gerade deshalb unbedingt er selbst. „Lied 5 – Flüsternde Zeit“ ist mit seinen unerwarteten Wendungen eine Verbeugung vor den Beatles und Radiohead. In „Lied 6 – Leb in meiner Welt“, jubiliert er über arabischen Percussion-Mustern. „Zieh deinen Weg als freier Radikaler. Sei unvorsichtig, verrückt“, heißt es in „Lied 10 – Zieh deinen Weg“. Treffender hätte er sein musikalisches Selbstverständnis nicht formulieren können. Sein mitreißendes Zelebrieren von Gegensätzlichkeiten erst recht nicht.

Versöhnung der Gegensätze – nach den Gesetzen des Pythagoras
Hierin liegt der Sinn des Albumtitels „12“ begründet. In Pythagoras’ formulierten Gedanken zur Numerologie, steht die 1 für Gott, Sonne, Mann. Die 2 für Teufel, Mond, Frau. 1 + 2 = 3. Die steht für die Versöhnung von Gegensätzen. Klar, „12“ ist Kunst. Große Kunst sogar. Die Sorte, die ob ihrer besonderen Portion Nonchalance gefällt, aber nie gefällig wirkt. Und ja, es ist nur ein Album. Nicht mehr und nicht weniger. Aber ein großartiges.
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