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Alt 28.06.2011, 00:31   #38
JJ
Darum öffnet Eure Pforten
 
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JJ ist ein wunderbarer AnblickJJ ist ein wunderbarer AnblickJJ ist ein wunderbarer AnblickJJ ist ein wunderbarer AnblickJJ ist ein wunderbarer AnblickJJ ist ein wunderbarer AnblickJJ ist ein wunderbarer Anblick
AW: (Zwischen-) Fazit der Tour

Wie dem auch sei, eben war ich eigentlich noch in Frankfurt, von dort galt es, mit Bummelzügen nach Schaffhausen zu kommen, es ist möglich, aber nicht schön, vor allem, weil sich die an sich schon 8-stündige Fahrt noch um 2 STunden verlängerte durch permanente Verspätungen. Immerhin blieb ich so 1 1/2 Stunden in Mannheim hängen, eine schöne Stadt (und nette Einwohner, jeder Mannheimer, den ich kennenlernen durfte, ist durch und durch gut, einer von ihnen ist ein sehr bekannter Keyboarder), und dort kaufte ich noch ein bisschen Proviant ein, was ich hinterher in der Schweiz aus Budget-Gründen nicht mehr gschafft hätte.

Nach vielen vielen Stunden kam ich schließlich in Schaffhausen an (die nördlichste mittelgroße Schweizer STadt) und war froh, dass mein Ticket unabhängig von der Zugart für jede Verbindung nach Bern galt. Auf dem Weg nach Zürich stellte ich fest, dass die Zugtoiletten dort so funktionieren wie vor 60 Jahren, es führt einfach ein offenes Loch zum Boden. Und irgendjemand hatte sein Jackett an der Tür hängen lassen, es war mir zwar zu klein, aber in Anbetracht der noch nassen Sachen aus Wien (jetzt sind sie trocken, aber nach 5 Tagen waren sie es noch nicht) kam mir ein kostenloses Oberbekleidungsstück wie gerufen, immerhin enthielt es auch keine Wertsachen (oder sie waren schon ausgeräumt, aber in der Schweiz kann ich mir das nicht vorstellen, da ist man nicht für Kleinkriminalität, da müssen es schon richtig große Sachen sein), also habe ich es mitgenommen, aber vor dem Stade de Suisse zurückgelassen, als sich herausstellte, dass es mir auf Dauer zu schwer wird, wenigstens hatte ich erstmals eine Sitzunterlage.

Huch, ich bin vom Thema abgekommen, es ging ja um die Schweiz und ihre Besonderheiten. Kaum sonst irgendwo auf der Welt schreit es einem von so vielen Seiten entgegen, dass man nicht dazu gehört, am allerschlimmsten fand ich die gut sichtbaren Preistafeln vor jedem Geschäft. Und das Schitzerdütsch, das klingt ja ganz süß und niedlich, wenn irgendso ein Schweizer es vor sich hinbrabbelt, aber wenn man mal kein Wort versteht und höflich fragt: "Können Sie das auf hochdeutsch wiederholen?", auwei, da erntet man einen noch böseren Blick, als ob man Herrn Westernhagen gegenüber den Namen mit G erwähnt. Bei den Zahlen fängt es an: 3 heißt "trü" und 9 heißt "nün", beim Bezahlen im (ebenfalls überteuerten) Supermarkt habe ich immer meinen gesamten Frankenvorrat hingeblättert und aufs Wechselgeld gewartet. Meine Lieblingszahl in einem Dialekt ist übrigens 32 auf platt, am ehesten schreibt man es wohl "tweiondörtie".

Zum Konzert in Bern schreibe ich mal nichts weiter, es wurde an anderer STelle reihlich festgehalten, es war durch und duch perfekt gemacht, am Einlass standen Körbe mit Ohrenschützern, mein Ordner hat auf Anfrage Regencapes verteilt, die Mitarbeiter vom Stade de Suisse haben so viel wunderbare Vorarbeit geleistet, da ist es eigentlich Sünde, dass mine Illusion von einer perfekten Schweiz in der anschließenden Nacht von diesem verkommenen Parkwächter zunichte gemacht wurde.

Ach ja, vielleicht ist es dem nicht existenten Pfandsystem der Schweiz zu verdanken, dass 2 Becher liegen geblieben sind, so bin ich nun zu welchen gekommen, nachdem ich am Ende schon übelegt hatte, in Konstanz ein oder 2 Getränke zu kaufen (was nicht meine Art ist), glücklicherweise waren es einer mit Gesicht und ein grüner, genau die beiden, die ich haben wollte.

Auf dem Weg nach Konstanz und innerhalb dort fällt mir gerade nichts ein, aber nach dem Konzert, da wurde es wieder menschlich. Ich betrat die Sparkasse beim Bahnhof, legte mich dorthin, die Beine sofort hoch, um noch irgendwie laufen zu können, und nach einer halben Stunde oder so kamen 2 junge Männer, der eine gröhlend und trokelnd, der andere nicht, und als sie gehen wollten, kam der andere auf mich zu und fragte: "Ähm, entschuldigung, ist bei Ihnen alles in Ordnung?" Vielleicht sollte so etwas selbstverständlich sein, das ist es aber nicht, also hebe ich es besonders hervor!

Eine ganz besondere Erkenntnis von der Rückfahrt möchte ich noch loswerden, weil sie mir bewiesen hat, dass vor allem in Deutschland nicht alles so extrem im Argen ist, wie ich es fast befürchtet hätte:

Schräg gegenüber von mir saß eine Dame Anfang 70 auf einem reservierten Platz, sie durfte aber innerhalb der Vierergruppe bleiben, als eine junge 3-köpfige Familie mit einer vielleicht 12-jährigen Tochter dort ihre Plätze einnehmen wollte. Sie kamen ins Gespräch und irgendwann ging es um Gesellschaftsspiele. Der Vater holte so ein magnetisches Reise-Mensch-ärgere-Dich-nicht heraus und sie spielten eine Runde mit der älteren Dame. Als sie fertig waren, sagte das Mädchen, es würde so gerne Mühle spielen, aber das Spieleset mit dem Dame/Mühle-Brett und den Dame/Mühle-Steinen ist unerreichbar tief im hintersten Koffer oder zumindest nicht direkt greifbar. Die Stimmung schien unten angelangt, als ich eine Eingebung hatte, die so simpel ist, dass man sich fragen kann, warum keiner von den vieren drauf gekommen ist:

Ich nahm eines von den übriggebliebenen Mehr geht leider nicht-Blättern, zeichnete mit einem dicken grünen Filzstift ein Mühlefeld darauf und reichte es rüber, Figuren und Münzen hatten sie selbst genug. Die Blicke von empörten Schweizern und einem empörten Westernhagen können einen auf der Stelle zu Stein erstarren lassen, der Blick von dem Mädchen aber, der entschädigt für vieles, fast sogar für den Schweizer Scheißkerl (ein Schüttelreim zu Scheißer Schweizkerl), aber darum ging es mir so direkt gar nicht mal, sondern viel mehr um die Erkenntnis, dass man heute noch ein Kind mit einem Stift und einem Blatt Papier erfreuen kann. Ich hatte schon ehrlich befürchtet, die Gesellschaft entwickelt sich von so etwas weg, aber noch ist nicht alles verloren.

Das war übrigens auch so ein Aspekt von meiner persönlichen kleinen Tour, dieses McGyver-mäßige, sich aus dem, was man hat, irgendwas zurechtzupfriehmeln. Im Alltag werde ich viel zu selten dazu gezwungen, umso erfreulicher fand ich es, die letzten Wochen ab und an mal abstrakt nach Lösungen suchen zu dürfen und die Kleinigkeit mit dem Mühlebrett im Zug, das war mein persönliches Sahnehäubchen für eine ohnehin schon phantastische Tour, die mir nicht nur von den Konzerten her so viel Freude bereitet hat wie noch keine andere zuvor, nein, auch im persönlichen Bereich, finde ich, habe ich für mich persönlich einiges dazulernen dürfen und einige Erfahrungen sammeln dürfen, die ich nicht missen möchte.

Als abschließendes Fazit möchte ich eine Frage beantworten, die mir so oder ähnlich von mehreren gestellt wurde:

"Eine richtige Übernachtungsmöglichkeit hast Du nicht, oder? Aber so kann man eine so lange Tour doch gar nicht durchstehen."

Die Antwort: Man kann. Und überdies kann man das ohne Übernachtungsmöglichkeit ohne vernünftige Krankenversicherung, ohne EC-Karte im Ausland, ohne Medikamente oder Pflegemittel für eine unangenehme und schmerzhafte Beinentzündung, ohne sich vorher über die jeweilige Stadt auch nur ansatzweise informiert zu haben (bzw. ganz minimal vielleicht) und -ganz wichtig- ohne die Möglichkeit zu haben, das ganze im Ernstfall vorzeitig zu beenden und nach Hause zu fahren. Es ist möglich, aber ich werde es mir beim nächsten Mal mehr als zweimal überlegen, ob ich mir genau so etwas noch mal genau so antue, es gab Momente, da war ich alles andere als so kühl und besonnen wie ich gerne immer wäre, es gab Momente, da habe ich, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, ein lautes "Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahrr rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr" in die Nacht geschrien um das ganze irgendwie weiter auszuhalten, aber prinzipiell kann ich nur wiederholen: Wenn man seine Ansprüche nicht viel zu hoch ansetzt, dann kann man so eine Tour auch ohne jeglichen großen und kleinen Komfort durchstehen!
__________________
Auch wenn Du mich verklagst
und Du schwörst, dass Du mich magst,
ist mir alles so egal
.

Ob Du fauchst oder ob Du beißt,
mich verwirrt nennst oder unreif,
Rache schwörst zum jüngsten Tag.

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